Apokalyptusbonbon
Am späten Nachmittag, den 22.06.23, Richtung Kassel von Marburg her kommend, herrschte der normale Feierabendverkehr. Nach der Autobahnausfahrt verdunkelte sich plötzlich der Himmel. Eine Nebelwand raubte die Sicht. Das angekündigte Unwetter war da. Wassermassen pladderten gegen die Scheiben, Gebüsch und Bäume schwangen windgepeitscht hin und her und das Auto fuhr knirschend über einen grünen Teppich aus Blättern und Zweigen. Ab und zu waren größeren Äste zu umfahren.
Das Gewitter mit Blitz und Donner wanderte vor uns her. Breite Wasserstöme liefen über die Straße, die immer wieder komplett in riesigen Pfützen versank. Zuweilen standen Autos am Rande, die vermutlich liegen geblieben waren. Unsere betagte Kiste pflügte sich jedoch brav durch die Wassermassen. Nun gaben die Handys ihre automatischen Katastrophen-Warnungen in schrillen, scheußlichen Alarmtönen von sich.
Nur sehr langsam wälzte sich die Autoschlange die lange, gerade, leicht abwärts führende Straße hinab. Bald rollte gar nichts mehr. Lange Standpausen. Wir waren nun in einer Hagelzone, nerviges, beängstigendes Getrommel aufs Auto, und immer wieder die automatischen Warn-Apps mit ihrem Katastrophengeschrei. Außerdem kam ein Anruf von unserem Sohn, der in einer Dachgeschosswohnung im Zentrum wohnt, vom Prasseln der Hagelkörner untermalt. Er fragte, ob wir ihn da rausholen könnten. Wir mussten ihm bescheiden, dass wir ihn nicht abholen konnten, da wir fest saßen. Wir rieten ihm, vorsichtshalber das Treppenhaus aufzusuchen. Er könne ja auch die Straßenbahn benutzen, wenn er dort weg wolle. „Die fahren längst nicht mehr“, sagte er; und durch das Fenster könne er gerade zusehen, wie die Straßen der ganzen Innenstadt in einem einzigen, großen See versanken.
Wieder ein paar Meter vorrücken, aber dann ging es wirklich nicht mehr weiter. Die Autos kehrten um, wo sich eine Wendemöglichkeit ergab. Wir drehten dann auch um und versuchten, unserem Haus auf Nebenstraßen näher zu kommen, wobei es zunächst, mit einigen Schleifen und Kehrtwendungen, gut voran ging. Bis wir am Ufer einer großen Wasserfläche strandeten, die den gesamten Bahnhofsbereich Kassel-Wilhelmshöhe bedeckte. Nur noch Feuerwehrfahrzeuge duchpflügten die Wasserfläche mit hoch aufspritzenden Bugwellen. Wieder eine Umkehr, bis an einer weiteren, komplett abgesoffenen Unterführung Schluss war.
Das gleiche Spiel, eine Wendemöglichkeit gesucht, zurück zum Stadtrand und wieder einen anderen Weg gewählt. Wir waren skeptisch wegen des Waldes dort, aber wir konnten alle umgefallenen Bäume umfahren; teilweise waren auch schon schmale Durchfahrten frei gesägt. Inzwischen war es dunkel geworden und es regnete wieder heftig. Einmal schlitterten wir über den glitschigen Straßenrand an einer Baumkrone vorbei, ganz knapp am Graben entlang, und ein Entgegenkommender hupte wütend - aber der befand sich auf fester Straße und konnte gefahrlos anhalten.
Zwei mal kamen wir bis auf ca.1 km Entfernung an unsere Wohnung heran und mussten doch wieder umkehren, weil jeweils ein großer Baum die gesamte Straße versperrte. Einer davon hatte ein geparktes Auto komplett platt gedrückt. Die Baumstämme waren zu dick und zu schwer für die Feuerwehr - da musste schweres Gerät her. Der naheliegende Gedanke, das Auto zu parken und das letzte Stückchen zu Fuß nach Hause zu gehen, war leider nicht ausführbar. Alle Plätze besetzt, es waren schon andere Leute auf diese Idee gekommen.
In weitem Bogen über umliegende Dörfer - in denen es auch gewütet hatte - und durch eine schlammige Unterführung, in der wir beinahe stecken geblieben wären, kamen wir schließlich nach Hause. Drei Stunden für einen 10-Minuten-Weg. Im Haus war alles in Ordnung. Kein Wassereinbruch, alle Fenster und das Dach ganz geblieben, und auch keine Beulen im Auto - Glück gehabt. Nur im Garten hatte der Hagel alle Früchte und die meisten Blätter herunter geschlagen.
Es war somit noch mal glimpflich für uns ausgegangen. Nur eine Kostprobe, ein Bonbon. Keine Menschen erschlagen, keine ganzen Dächer weggeweht und keine Häuser umgefallen. Dennoch sind die Schäden in der Gegend beträchtlich. Immer noch sind jetzt, nach fast 6 Wochen, viele der ausgewaschenen Wege abgesperrt, laufen Trockengeräte in Kellern, und in der Innenstadt sind weiterhin Geschäfte geschlossen, Auch das Kellergeschoss eines großen Kaufhauses, das vollgelaufen war, ist gesperrt. An vielen Dächern wird gearbeitet, und oft sind in den Schaumstoff-Verschalungen mancher Häuser Hagellöcher zu entdecken. Etliche kleinere Läden, deren Warenbestand beschädigt oder ganz vernichtet wurde, werden wohl aufgeben. Andere sind neu entstanden: "Reparatur von Hagelschäden".
Aber manche Leute - man wundert sich. Es gibt da einen netten Bekannten, den wir häufig am Badesee treffen und mit dem wir dann gern ein wenig plaudern. Und der meinte: "Jetzt ist es doch schon seit ein paar Tagen ziemlich kühl - das zeigt doch, dass diese Klimaspinner unrecht haben!"